Projekt

Eine eigenwillige Korrespondenz: Der Briefwechsel zwischen Alma Mahler und Walter Gropius

Bald nach dem Tod von Walter Gropius (1969) erreichte das Bauhaus-Archiv aus den Vereinigten Staaten ein Karton mit der Beschriftung „WALTER PRIVATE BRIEFE!“, den seine zweite Ehefrau Ilse, genannt Ise, Gropius als Nachlassverwalterin übersandt hatte. Der Karton enthielt verschiedene Briefwechsel, außerdem Vortragsmanuskripte und weitere private Dokumente, die sich allesamt in großer Unordnung befanden und aufgrund der schwer lesbaren Handschrift von Walter Gropius kaum einzuordnen waren – darunter auch die Briefe von Alma Mahler. Es sollte zwei weitere Jahre dauern, bis der Bestand archivarisch aufgenommen und die Besonderheit der Korrespondenz erkannt wurde: Neben den Briefen Alma Mahlers sind auch Briefentwürfe von Walter Gropius erhalten, die er als Vorfassungen seiner Briefe von 1910 bis 1914 an die Geliebte auf Notizzetteln und kleineren Blättern verfasst hatte. Damit stellt dieses Konvolut eine in sich geschlossene Korrespondenz von Briefen und Briefentwürfen dar, die umso wertvoller ist, als Alma Mahler die Briefe von Walter Gropius an sie vernichtete. Obwohl das Material nach dem Tod von Walter Gropius direkt an das Bauhaus-Archiv ging, war das Konvolut nicht von Anfang an der Öffentlichkeit zugänglich. Aufgrund des teilweise sehr privaten Inhalts entschied sich der erste Direktor des Bauhaus-Archivs, Hans Maria Wingler, in Rücksprache mit Ise Gropius dazu, den Bestand bis ins Jahr 1990 zu sperren. Nach Ablauf dieser Frist wagten sich nur wenige Forschende an das so umfangreiche, ungeordnete und nur mühsam zu erschließende Material (Zur Transkription und Datierung): Insgesamt umfasst das Gesamtkonvolut ca. 950 Briefe von Alma Mahler (Zum Material von Alma Mahler) und ca. 300 Briefentwürfe von Walter Gropius (Zum Material von Walter Gropius), die die gemeinsame Geschichte umspannen.

Im Sommer 1910 lernten sich beide während eines Kuraufenthalts kennen und verliebten sich. Die Affäre wurde bis über den Tod Gustav Mahlers im Mai 1911 hinaus leidenschaftlich fortgeführt, erkaltete jedoch Anfang 1912. Der Briefwechsel wurde dennoch fortgesetzt und überdauerte nicht nur die Beziehung Alma Mahlers mit Oskar Kokoschka, sondern auch den Ausbruch des Ersten Weltkrieges, in dessen Wirren das ehemalige Paar schließlich wieder zueinanderfand. 1915 folgte die Heirat und ein Jahr später die Geburt der gemeinsamen Tochter Manon, doch schon ab 1917 entfremdeten sich die beiden erneut und ließen sich 1920, ein Jahr nach der Gründung des Bauhauses in Weimar, endgültig scheiden. Dennoch blieb der Kontakt erhalten, nicht zuletzt wegen des gemeinsamen Kindes. Und auch nach dem tragischen Tod der Tochter Manon 1935 schrieben sich beide weiterhin, zwischenzeitlich mit neuen Partner:innen verheiratet, wenngleich sich der Ton und auch die Frequenz bis 1964 änderten.

Die vorliegende Edition gibt den Briefwechsel von 1910 bis 1914 wieder, umfasst die Zeit des Kennenlernens und Verliebens, der geheimen Affäre sowie des letzten Lebensjahres Gustav Mahlers und spannt sich bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Damit stellt dieses Material eine besonders reiche Quelle dar, die vielfache neue Erkenntnisse liefert.

Sprechende Quellen in einem Koffer: Zur Bedeutung der Korrespondenz für die Gropius-Forschung

Wie Ise Gropius in den 1960er-Jahren dem Bauhaus-Archiv gegenüber mitteilte, bewahrte Walter Gropius zeit seines Lebens die Korrespondenz mit Alma Mahler in einem eigenen Koffer im Keller auf – sowohl in seinen Jahren in Deutschland als auch im amerikanischen Exil. Anlässlich des Umzugs in die USA 1937 ist überliefert, dass Walter Gropius tagelang im Keller seiner Berliner Wohnung in der Potsdamer Privatstraße saß und aussortierte, was er mitzunehmen beabsichtigte und was er letztlich vernichtete. Die Korrespondenz mit Alma Mahler scheint also einen solch hohen Erinnerungswert für ihn dargestellt zu haben, dass er dieses Material mit in seine neue Heimat nahm.

Zugang erhielt – trotz der Sperrfrist – nur Reginald Isaacs, der bereits zu Lebzeiten, vor allem aber nach dem Tod von Walter Gropius in enger Zusammenarbeit mit der Witwe an dessen erster Biografie arbeitete und diese 1983 publizierte (). Diese unmittelbare Nähe bewirkte allerdings auch eine starke Stellungnahme zugunsten seines Protagonisten, die hinsichtlich der Beziehung zu Alma Mahler als parteiergreifend bezeichnet werden muss.

Im Gegensatz zu seiner beruflichen Laufbahn, seinem Frühwerk als Architekt (vgl. , und ), vor allem aber den späteren Bauhaus-Jahren, die ausführlich dokumentiert wurden, sind Primärquellen zum persönlichen Leben von Walter Gropius aus den Jahren vor 1918 spärlich – nur wenige Briefe aus dem Familienumfeld geben Auskunft über den Menschen Gropius. Isaacs’ Biografie blieb daher für lange Zeit die einzige Bezugsquelle gerade zu den frühen Jahren seines Lebens vor der Bauhaus-Gründung. Zwar wurden nach Isaacs’ Buch noch mehrere Biografien unterschiedlicher Qualität über Walter Gropius publiziert, die auch die Jahre vor 1918 behandeln, jedoch mussten sich diese aufgrund der bisherigen Quellenlage allesamt auf Isaacs beziehen und konnten dadurch kaum neue Erkenntnisse beitragen (vgl. , und ).

Dabei sind die Briefentwürfe, die Walter Gropius sein Leben lang aufbewahrte, nicht nur Dokumente einer großen Liebesgeschichte. Das Material dokumentiert vor allem die ersten Jahre seiner Karriere, sein Frühwerk, die Entwicklung seines Denkens – und Schreibens. Schließlich bewahrte er nicht nur Alma Mahlers Briefe, sondern eben auch seine eigenen Entwürfe und Notizen auf, Vorstadien der eigentlichen Briefe, darunter teilweise Blattfragmente mit nur einem Satz, dessen Formulierung er offensichtlich gelungen fand. 1910 betrachtete Walter Gropius die Briefgeschichten noch als eine ewige Höllenqual (WG89) und musste um die richtigen Worte ringen, während er bereits ein Jahr später seine Karriere als Redner und begabter Rhetoriker begann.

Neben der Inspiration, die die Liebe zu Alma Mahler an und für sich darstellte, schienen vor allem der geistige Austausch und das schriftliche Formulieren von Gedanken Walter Gropius zu beflügeln. Der unverfälschte Charakter des Entwurfs, an dem sich die Entwicklung, die eigene Reflexion und Selbstkorrektur nachvollziehen lässt, zeigt dabei, in Anlehnung an James Joyce, eine Art Porträt des Künstlers als junger Mann. Die Jahre 1910 bis 1914 waren für ihn eine prägende Zeit der Formung, in denen sich nicht nur sein geistiges, sondern auch sein persönliches Umfeld veränderte und in denen es ihm schließlich gelang, seine Karriere aufzubauen. Welchen Anteil Alma Mahler am Suchen und Finden seines persönlichen Ausdrucks nahm, zeigt dabei bereits das Titelzitat der Buchedition des Briefwechsels (Du bist mir Kunst, WG10, ): Die Wiener Komponistin war für ihn Inbegriff seiner eigenen und zutiefst emotionalen Vorstellung von Kunst, der er in zahlreichen Entwürfen mit romantisch verklärten Worten zu huldigen suchte. Der Idealismus, der seiner Liebe zu Alma Mahler zugrunde liegt, fügte sich dabei nahtlos in seinen Glauben an eine neue Architektur und eine neue Kunst, die er nicht zuletzt in der Musik Gustav Mahlers verkörpert sah. Die Auseinandersetzung mit Musik, der Musik Gustav Mahlers, aber auch Alma Mahlers, Wagners, Schönbergs und anderer Komponisten, die ihm durch seine Geliebte nahegebracht wurden, stellt damit eine wichtige Einflussquelle seiner frühen Jahre dar. Zudem gibt die Korrespondenz auch erstmalig einen vertieften Einblick in die von Walter Gropius präferierte Literatur. Romane, Gedichte und philosophische Bücher sowie Tagebücher und Briefe historischer Persönlichkeiten spielen eine zentrale Rolle innerhalb des Briefwechsels, wobei auch Bewertungen und Interpretationen des Gelesenen abgegeben werden. In Bezug auf Walter Gropius sind Autoren und Titel vor allem deshalb sehr aufschlussreich, da keine vollständige private Bibliothek von ihm überliefert ist (vgl. hingegen für Alma und Gustav Mahler ).

Aufgrund des Notizcharakters der Briefentwürfe finden sich zudem immer wieder Notate, die Walter Gropius als Erinnerung für sich selbst niederschrieb, oftmals das Datum von Theateraufführungen, Konzerten oder Ausstellungen, die er besuchte oder besuchen wollte. So ergibt sich ein vielfältiges Bild der kulturellen und intellektuellen Einflüsse dieser frühen Zeit, das zudem durch die Reisen, Freundschaften und familiären Verflechtungen ergänzt wird, über die wir durch die Briefentwürfe ebenfalls Aufschluss gewinnen. Gerade bezüglich seiner ersten Auftraggeber sowie früher Versuche, Auftraggeber zu gewinnen, gibt der Briefwechsel neue Einblicke.

Zudem können einige architektonische Entwurfsprozesse und deren Datierung, vor allem aber eigene Einschätzungen von Walter Gropius zu seinen Entwürfen und Schriften neu beleuchtet werden. Offensichtlich schrieb und erzählte er Alma Mahler nicht nur, woran er jeweils arbeitete, sondern übersandte auch Fotos einer Auswahl seiner Entwürfe und Bauten, überließ ihr sogar originale Manuskripte und erbat ihren Rat oder ihre Meinung. Einige kleinere und bisher unbekannte Entwürfe von kunstgewerblichen Gegenständen oder Accessoires entstanden dabei als persönliche Geschenke an Alma Mahler, teilweise auch im direkten Austausch mit ihr. Dokumente und Entwürfe dieser Art zeigen damit den individuellen Geschmack sowie den gestalterischen Ausdruck, den er gegenüber Alma Mahler offenbarte.

Diese Sammlung an persönlichen Äußerungen, Einflussquellen, Gedanken, Stichworten und einzelnen Formulierungen, die rein subjektiv und zuallererst für ihn selbst verfasst wurden, stellt demnach einen außergewöhnlich reichen Quellenbestand dar, der im Vergleich zum Nachlass anderer Architekten seiner Zeit als einmalig bezeichnet werden kann.

Unzensierte Erinnerungen und Gefühlsäußerungen: Die Bedeutung des Briefwechsels für die Alma- und Gustav-Mahler-Forschung

Alma Mahler selbst legte zahlreiche schriftliche Zeugnisse über ihr Leben ab, verfasste von 1898 bis 1944 Tagebucheinträge (vgl. sowie , Ms.Coll. 575, Box 31 und 33) und verarbeitete diese später zu ihren Memoiren. Vor allem das Leben an der Seite ihres ersten Ehemanns, dem sie nach seinem Tod das Buch Gustav Mahler. Erinnerungen und Briefe widmete (, vgl. und ), prägt dabei ihre autobiografischen Schriften, wobei Alma Mahler immer wieder Veränderungen am ursprünglichen Material vornahm. Sowohl in diesen Erinnerungen als auch in ihren Memoiren (vgl. u. a. und ) finden sich zahlreiche Unwahrheiten, die nicht allein durch Nachbearbeitung von Verlegern, Übersetzern und Redakteuren, aus dramaturgischen Gründen oder aus Rücksicht auf noch lebende Zeitgenossen entstanden sind. Die Vermutung liegt daher nahe, dass Alma Mahler ihre Memoiren nicht nur für die Nachwelt zensierte, sondern auch größere Ereignisse oder ganze Kapitel ihres Lebens bewusst anders darstellte, als sie tatsächlich geschehen waren. Vor allem bezüglich Walter Gropius zeigt sich deutlich die Diskrepanz zwischen den tatsächlichen Geschehnissen und Alma Mahlers späteren Schilderungen. Bezeichnenderweise fehlen in ihren Tagebucheinträgen die Jahre 1910 bis 1912: die Zeit des Kennenlernens und Verliebens sowie der Affäre bis zum Tod Gustav Mahlers 1911 und ihr erstes Jahr als Witwe. In ihren autobiografischen Veröffentlichungen stellte sie die Beziehung zu Walter Gropius in sehr verkürzter und einseitig wertender Art und Weise dar, nannte ihn den „Künstler X“ und erweckte den Eindruck, die Avancen eines verliebten Jünglings abwehren zu müssen. Daraufhin schrieb Walter Gropius 1958 in einem der letzten Briefe an sie (, Sammlung Ida Gebauer, Autogr. 1313/20-3): die Liebesgeschichte, die Du in Deinem Buch mit meinem Namen verbindest[,] war nicht die unsrige. […] Der Rest ist Schweigen. Der Briefwechsel ist daher nicht nur die einzige unzensierte Quelle für diese Liebesgeschichte, sondern auch für Alma Mahlers gesamtes Privatleben. Die beiden bisher erschienenen Briefwechsel mit Arnold Schönberg (, ) sowie Alban und Helene Berg () stellten bislang die einzigen veröffentlichten unzensierten Quellen dar. Sie zeigen Alma Mahler jedoch nicht so persönlich wie der Briefwechsel mit Walter Gropius, der nicht zuletzt ihre Gefühle gegenüber ihrem Mann, deren Verhältnis untereinander, aber auch den Einfluss der Affäre auf Gustav Mahler und ihre eigene Musik offenlegt.

Ein zweifelhafter Ruf Alma Mahlers als libertinäre Salondame überdeckte dabei lange Zeit ihre ernsthafte Tätigkeit als Komponistin und Kulturakteurin. Diese geriet erst Ende der 1990er Jahre in das Blickfeld der Forschung, die das weit verbreitete Image korrigierte (u. a. und , vgl. ). Als Bedingung für die Heirat verlangte Gustav Mahler 1902, dass seine Frau das Komponieren aufgebe, eine Art Ehevertrag, den Alma Mahler – durchaus zeittypisch – akzeptierte. Als Gustav Mahler im August 1910 von der Beziehung seiner Frau zu Walter Gropius erfuhr, versuchte er ihre Zuneigung wiederzuerlangen, indem er einige ihrer frühen Kompositionen erstmals studierte, überarbeitete und herausgab. Zudem spiegeln sich die hochemotionalen und dramatischen Ereignisse des Sommers 1910 nach der Aufdeckung der Affäre auch in Gustav Mahlers Zehnter Symphonie wider. Da all diese Ereignisse anhand des Briefwechsels zwischen Alma Mahler und Walter Gropius rekonstruiert werden können, wurde die Korrespondenz bisher überwiegend von musikwissenschaftlicher Seite gesichtet.

Die wichtigsten Publikationen zur Datierung der Briefe Alma Mahlers hat Jörg Rothkamm 1999 bis 2003 vorgelegt, in denen er diese methodisch erstmals auf eine solide Grundlage stellte und zahlreiche Irrtümer und Transkriptionsfehler von Isaacs korrigierte (, , ). Auf dieser Basis gelang es ihm, die genaueren Umstände um Gustav Mahlers Komposition der Zehnten Symphonie zu ermitteln und dessen Anteil an denjenigen Liedern Alma Mahlers, die zwischen 1910 und 1915 publiziert wurden. Der Briefwechsel zwischen Alma Mahler und Walter Gropius spielte hier für die Datierung und Zuschreibung der Anteile der Urheber eine zentrale Rolle, konnte jedoch seinerzeit nicht vollständig gesichtet werden.

Der Historiker Oliver Hilmes setzte sich 2004 detailliert mit Alma Mahlers Briefen auseinander und zeigte unter Heranziehung einzelner ausgewählter, datierbarer Zitate, dass Alma Mahler trotz ihrer (Ehe-)Beziehungen zu jüdischen Künstlern antisemitisch dachte (). Seine kritische Schrift stellt die bis dato quellenintensivste Studie mit zahlreichen neuen Ergebnissen aus Archiven und Sammlungen dar.

Auf Basis dieser Vorarbeiten hat Henry-Louis de La Grange im Rahmen seiner monumentalen Biografie über den Komponisten Gustav Mahler 2008 den bis heute umfassendsten Versuch gemacht, den Briefwechsel zwischen Alma Mahler und Walter Gropius auszuwerten und ausschnittweise in englischer Übersetzung zu publizieren (). Er verließ sich dabei jedoch weitgehend auf Mitarbeiter, die ihm les- und datierbare Auszüge einzelner Briefe transkribierten, wobei zahlreiche Irrtümer passierten.

Trotz seiner Bedeutung sowohl für Alma als auch für Gustav Mahler wurde der Briefwechsel demnach bisher nur auszugsweise herangezogen.

Bezüglich Gustav Mahler liefert der Briefwechsel dabei wichtige Aufschlüsse über das letzte Jahr seines Lebens sowie seines Komponierens und Musizierens. Die Ereignisse des Sommers 1910 und die Aufdeckung der Affäre seiner Frau führten zu einem emotionalen Zusammenbruch Gustav Mahlers, in dessen Folge sogar Suizid in Erwägung gezogen wurde – eine bisher der Forschung unbekannte biografische Wendung, wodurch auch ein neues Licht auf den Gehalt der Zehnten Symphonie fällt. Wann genau Gustav Mahler danach wieder an diesem Werk weiterarbeitete und in welchem emotionalen Zustand er sich befand, beleuchtet dieser Briefwechsel ebenso wie die letzten großen Stationen seiner Karriere. Sowohl die Uraufführung seiner Achten Symphonie im Herbst 1910 als auch seine letzte Konzertsaison in New York im Herbst und Winter 1910/1911 sowie seine schwere Krankheit und sein Tod im Mai 1911 werden innerhalb des Briefwechsels dokumentiert – Lebensereignisse einer Ehe, an der Walter Gropius nicht nur Anteil nahm, sondern manches unmittelbar miterlebte. Die Korrespondenz erzählt von bislang unbekannten Treffen, Sanatoriumsaufenthalten und Reisen, Absprachen und vorgeschobenen Erklärungen, aber auch vom gemeinsamen Erleben und Mitfühlen. Damit zeigte sich Alma Mahler, die sich offenbar nicht vielen Vertrauten so geöffnet hat, in ihren Briefen unzensiert als Frau, Ehegattin, Mutter und Musikerin. Gerade ihr Witwendasein, die Rolle als Nachlassverwalterin ihres berühmten Mannes, außerdem die posthume Rezeptionsgeschichte seiner Werke und ihr eigenes (Kammer-)Musizieren von Werken Dritter können nun um wesentliche Hintergründe erweitert werden.

Mithilfe des Briefwechsels lässt sich aber vor allem die Entstehung der meisten zu Lebzeiten erschienenen Lieder unter dem Namen Alma (Schindler-)Mahler entscheidend erhellen, sowohl bezüglich ihrer Chronologie als auch der Unterstützung bzw. Mitarbeit Gustav Mahlers sowie der partiellen Inspiration durch Walter Gropius. Die Erstfassungen aller Fünf Lieder () waren bereits um 1900 entstanden und sind bis spätestens Herbst 1910 von Gustav Mahler zur Publikation zusammengestellt und teilweise gemeinsam revidiert worden. Neben der späten Wertschätzung durch Gustav Mahler ist dieses erste, zum Jahreswechsel 1910/1911 publizierte Heft eher mit ihrer Adoleszenz und den ehemaligen Kompositionslehrern Josef Labor und Alexander Zemlinsky verbunden. Hingegen widmete Alma Mahler Walter Gropius ein Exemplar der 1915 erschienenen Vier Lieder (), die – zum Teil basierend auf Erstfassungen aus der Zeit um 1900 – jedoch bereits 1910/1911 zu Lebzeiten Gustav Mahlers erheblich überarbeitet wurden (s. und ) oder unter dessen Beistand bis Anfang 1911 neu entstanden sind.

So wie Alma Mahler architektonische Texte und Entwürfe von Walter Gropius kommentierte, wollte er ihre Musik sogleich kennenlernen und hören, als sie ihm 1910 Novalis-Gedichte zukommen ließ, die sie zur Komposition inspirierten. Diese Lieder dürften noch 1910/1911 entstanden sein, sodass nachweislich nur einer der 1924 schließlich publizierten Fünf Gesänge – nämlich Der Erkennende – nach Gustav Mahlers Krankheit bzw. Tod begonnen wurde (auf ein Gedicht von Franz Werfel). Die Hauptphase der Entstehung aller drei Liedhefte ist also zwischen Ende Juli 1910 und Februar 1911 während der Beziehung zu Walter Gropius anzusetzen, auch wenn Teile erst 1915 bzw. 1924 () erschienen. Walter Gropius kann partiell als imaginärer Adressat gelten. Alma Mahlers Selbstzweifel als Künstlerin rissen jedoch nicht ab, sodass sie nach Gustav Mahlers Tod nur noch punktuell komponierte: von Walter Gropius aufgefordert im Sommer 1911 sowie nochmals 1915. Dabei beleuchtet der Briefwechsel nicht nur, wann sie komponierte und wie sie von Gustav Mahler unterstützt wurde, sondern auch ihre eigenen Empfindungen, Zweifel und Hoffnungen gegenüber ihren Kindern, wie sie ihre Kompositionen in einem Brief nannte (AM21). Die Briefe an Walter Gropius zeigen Alma Mahler demnach in all ihren Facetten authentischer denn je.